Die UX-Methode „Heuristische Evaluation“

Jan 29, 2024
Die Heuristische Evaluation ist eine Methode im UX Design, um die Benutzerfreundlichkeit von Produkten und Services zu bewerten. Heuristiken sind etablierte Faustregeln oder Richtlinien, anhand derer Erkenntnisse gesammelt werden. Die Erkenntnisse helfen Designern, die Usability und User Experience ihrer Produkte zu optimieren.

Durchgeführt wird eine heuristische Evaluation von einem oder mehreren Experten (idealerweise 3-5). Mithilfe der definierten Heuristiken erfolgt eine kritische Bewertung, inwieweit eine Lösung den vorgegebenen Richtlinien entspricht, wie effektiv sie dies tut und ob Optimierungsbedarf besteht. Diese Methode kann in frühen Entwurfsphasen bis hin zur finalen Produktentwicklung angewendet werden.

Die heuristische Evaluation ist eine schnelle und, im Vergleich zu anderen Maßnahmen kostengünstige Methode, um Probleme zu lösen oder Entscheidungen zu treffen. Die alleinige Anwendung dieser Methode bringt ein paar Nachteile mit sich, die abschließend im Artikel erwähnt werden. Außerdem lernst du in diesem Artikel die einzelnen Schritte einer heuristischen Evaluation und die 10 Usability Heurisitcs nach Jakob Nielsen kennen.

Während einer heuristischen Evaluation wird überprüft inwieweit eine Lösung den Richtlinien entspricht. Die gesammelten Erkenntnisse bilden die Grundlage, auf der Designer gezielt Verbesserungen zur Optimierung der Usability und User Experience ihrer Produkte vornehmen können.

Jakob Nielsen, ein renommierter Experte im Bereich User Experience (UX), hat maßgeblich zu den Heuristiken beigetragen, die als Referenzpunkte für die Evaluation dienen. Die „10 Usability Heuristics for User Interface Design„ (Link) (1990 entworfen von Nielsen und Molich und über die Jahre von Nielsen optimiert) bieten dabei eine klare Struktur und Orientierung. Sie umfassen grundlegende Prinzipien wie Sichtbarkeit des Systemstatus, Übereinstimmung von System und Realität sowie flexible Nutzung und effiziente Fehlerbehandlung.

Für UX-Designer fungieren die Heuristiken von Nielsen nicht nur als Bewertungswerkzeuge, sondern auch als Leitfaden für die Schaffung herausragender Nutzererlebnisse.

Die einzelnen Schritte einer heuristischen Evaluation

Vorbereitung Heuristische Evaluation

Vorbereitung

Auswahl der Evaluatoren, Definition der Heuristiken und des Umfangs, sowie Dokumentation

Die Vorbereitungsphase ist entscheidend für den Erfolg der heuristischen Evaluation. Zunächst werden Evaluatoren ausgewählt, die über fundiertes UX-Wissen verfügen. Diese Experten spielen eine Schlüsselrolle, da ihre Bewertungen die Grundlage für Optimierungsmaßnahmen bilden.

Gleichzeitig erfolgt die Festlegung der zu verwendenden Heuristiken und des zu analysierenden Umfangs. Bei komplexen Produkten macht es ggf. Sinn, die Evaluation in mehreren Sessions durchzuführen und sich nacheinander auf einzelne Produktbereiche zu konzentrieren.

Außerdem ist es wichtig, die Art und Weise der Dokumentation vorzugeben, beispielsweise durch die Nutzung eines digitalen Whiteboards. Die Evaluatoren sollten die Ergebnisse der anderen dabei jedoch nicht sehen, bis sie ihre eigene Bewertung abgeschlossen haben. Dies gewährleistet unabhängige Beobachtungen und verhindert gegenseitige Beeinflussung während des Bewertungsprozesses.

Durchführung Heuristische Evaluation

Durchführung

Unabhängige Bewertung, Wiederholung mit Fokus auf Details, Dokumentation der Findings

Die eigentliche Evaluation beginnt mit einer gründlichen Vorbereitung der Evaluatoren. Hierbei wird darauf geachtet, dass sie genau verstehen, was während der Evaluation zu bewerten ist. Die Evaluatoren analysieren und bewerten unabhängig voneinander das Produkt. Dieser Prozess erfordert mindestens zwei Durchgänge.

Im ersten Durchgang macht sich der Evaluator mit dem Produkt vertraut, um einen Überblick über die Anwendung und deren Funktionen zu erhalten. Im zweiten Durchgang schauen die Evaluatoren sich die Designelemente und Funktionen nochmals im Detail an. Währenddessen legen sie besonderes Augenmerk auf die definierten Heuristiken und notieren mögliche Probleme oder Verbesserungsvorschläge.

Dieser detaillierte Analyseprozess stellt sicher, dass verschiedene Aspekte der Benutzerfreundlichkeit gründlich geprüft werden. Abhängig von der Natur und Komplexität des Produkts kann die Durchführung der Evaluation mehrere Stunden in Anspruch nehmen.

Analyse Heuristische Evaluation

Konsolidierung und Analyse der Ergebnisse

Konsolidierung und Analyse, Probleme identifizieren und Pattern entdecken, Debriefing
Nach Abschluss der Evaluation werden die Ergebnisse konsolidiert und systematisch analysiert. Während des Evaluationsprozesses haben die Evaluatoren mögliche Probleme aufgezeichnet. In dieser Phase erfolgt eine Priorisierung der identifizierten Probleme, um diejenigen herauszufiltern, die die höchste Relevanz für die Usability haben.

Eine hilfreiche Methode während der Analysephase ist die Anwendung eines Affinitätsdiagramms. Dieses ermöglicht eine gezielte Gruppierung ähnlicher Probleme, was die Identifikation von Mustern und die Ableitung ganzheitlicher Lösungsansätze erleichtert.

Die Ergebnisse werden in einer Debriefing-Sitzung diskutiert, in der die Evaluatoren ihre Erkenntnisse teilen und einschätzen, offene Fragen klären und potenzielle Lösungen auf Basis der Heuristiken vorschlagen.

Die einzelnen Schritte der heuristischen Evaluation sind entscheidend, um die Usability eines Produkts oder einer Anwendung systematisch zu verbessern. Durch eine strukturierte Vorgehensweise wird sichergestellt, dass relevante Probleme erkannt und effektive Lösungen entwickelt werden können.

Die 10 Usability Heuristics nach Jakob Nielsen

  1. Sichtbarkeit des Systemstatus (Visibility of System Status):
    Das System sollte dem Benutzer stets klar kommunizieren, was gerade geschieht, indem es Rückmeldungen in angemessener Zeit liefert. Dies hilft, Unsicherheit und Frustration zu vermeiden.
  2. Übereinstimmung von System und Realität (Match between System and the Real World):
    Die Darstellung und Interaktion in einem System sollte den Konventionen der realen Welt entsprechen. Benutzer erwarten, dass sich Dinge in der digitalen Umgebung so verhalten, wie sie es aus ihrer Erfahrung in der realen Welt kennen.
  3. Benutzerkontrolle und Freiheit (User Control and Freedom):
    Benutzer sollten die Freiheit haben, jederzeit einen Prozess abzubrechen oder eine Aktion rückgängig zu machen. Für ungewollte Aktionen sollte es klare Ausstiegswege geben.
  4. Konsistenz und Standards (Consistency and Standards):
    Konsistente Abläufe und Darstellungen innerhalb eines Systems sowie die Einhaltung von Konventionen sorgen für Klarheit. Das minimiert die kognitive Belastung der Nutzer und führt zu einer intuitiven Nutzung ohne unnötige Lernkurven. ➥ Siehe hierzu auch „Jakob’s Law“.
  5. Fehlervermeidung (Error Prevention):
    Das Design sollte so gestaltet sein, dass es Fehlhandlungen seitens der Benutzer verhindert. Durch klare Anleitungen und Hindernisse, die fehlerhaftes Verhalten erschweren, können potenzielle Probleme vermieden werden.
  6. Erkennung statt Erinnerung (Recognition rather than Recall):
    Benutzer sollten keine Informationen aus dem Gedächtnis abrufen müssen, um Aufgaben erfolgreich abzuschließen. Stattdessen sollten relevante Informationen stets sichtbar sein.
  7. Flexibilität und Effizienz der Nutzung (Flexibility and Efficiency of Use):
    Das System sollte sowohl für erfahrene als auch für unerfahrene Benutzer effizient nutzbar sein. Erfahrene Benutzer sollten durch Beschleuniger (z.b. Tastaturkürzel oder Gesten) und Personalisierung schnell durch das System navigieren können, während auch Anfänger ihre Ziele erreichen können.
  8. Ästhetisches und minimalistisches Design (Aesthetic and Minimalist Design):
    Die Gestaltung eines Systems sollte ästhetisch ansprechend und gleichzeitig auf das Wesentliche konzentriert sein. Irrelevante Informationen und überflüssige Elemente können von der eigentlichen Aufgabe ablenken.
  9. Hilfe und Dokumentation (Help Users Recognize, Diagnose, and Recover from Errors):
    Fehlermeldungen sollten dem Benutzer klare Informationen darüber geben, was schief gelaufen ist, und Anleitungen zur Fehlerbehebung bieten. Benutzer sollten in der Lage sein, von Fehlern zu lernen und diese zu beheben.
  10. Hilfe und Dokumentation (Help and Documentation):
    Eine effektive Hilfe ermöglicht es Benutzern, Probleme selbstständig zu lösen, ohne auf externe Unterstützung angewiesen zu sein. Wenn Hilfe und Dokumentation erforderlich sind, sollten diese leicht verfügbar und einfach zu verstehen sein.
Diese 10 Usability Heuristics stellen eine umfassende Grundlage für die Bewertung von Benutzerfreundlichkeit dar und sind essenziell für die Identifikation von Verbesserungspotenzialen während einer heuristischen Evaluation.

➥ Zu den 10 Usability Heuristics nach Jakob Nielsen

Vor- und Nachteile der Heuristischen Evaluation

Die heuristische Evaluation ist eine effektive Methode im UX Design, jedoch bringt sie sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich.

Vorteile Heuristische Evaluation

Vorteile

  • Frühe Erkennung von Usability-Problemen
    Die Anwendung von Heuristiken ermöglicht eine frühzeitige Identifikation potenzieller Usability-Probleme bereits in den frühen Phasen des Designprozesses. Dies erleichtert die rechtzeitige Anpassung und Optimierung.
  • Schnell und kostengünstig
    Im Vergleich zu anderen Methoden, die die Einbeziehung realer Benutzer erfordern, ist die heuristische Evaluation eine schnelle und kostengünstige Lösung. Sie ermöglicht eine zügige Überprüfung der Benutzerfreundlichkeit ohne aufwändige Ressourcen.
  • Effiziente Nutzung von Expertenwissen
    Durch die Einbindung von Experten mit spezifischem Fachwissen können detaillierte und fundierte Bewertungen erfolgen. Dies ermöglicht präzise Analysen der Usability-Aspekte eines Produkts.
Nachteile Heuristische Evaluation

Nachteile

  • Abhängigkeit von Evaluatorenkenntnissen
    Die Qualität der heuristischen Evaluation hängt stark von der Expertise der Evaluatoren ab. Die Schulung von Evaluatoren oder die Anstellung externer Fachleute kann die Zeit und Kosten für die Durchführung der Evaluation erhöhen.
  • Annahmen über „gute“ Usability
    Heuristiken basieren auf Annahmen darüber, was als „gute“ Usability betrachtet wird. Obwohl diese Annahmen auf Forschung basieren, ersetzen sie nicht die Notwendigkeit von Tests mit realen Benutzern. Heuristiken sind Richtlinien, keine in Stein gemeißelten Regeln.
  • Mögliche Fehlalarme
    Es besteht die Gefahr, dass heuristische Evaluationen falsche Alarme auslösen. Studien haben gezeigt, dass ein signifikanter Prozentsatz der von heuristischen Evaluierungen identifizierten „Probleme“ tatsächlich keine Probleme sind. Auch können Evaluatoren nur einen begrenzten Anteil echter Usability-Probleme identifizieren im Vergleich zu Benutzertests.
Insgesamt bietet die heuristische Evaluation eine schnelle und kosteneffiziente Möglichkeit, Usability-Probleme zu erkennen, sollte jedoch mit der Anerkennung ihrer Limitationen und der Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes zum UX Design angewendet werden.
Portrait Su Wiemer

Hi, ich bin Su, Senior UX Designerin. Ich entwickle und schreibe über Lösungen für digitale Produkte, die Nutzer begeistern. Ganz nach dem Motto #makeusershappy.

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